102
Eine Sinfonie der Trostlosigkeit Weise Menschen sagen, man könne zwar die Uhren zurückstellen (machen wir ja alle Jahre einmal), unmöglich aber sei es, die Zeit zurückdrehen. Bis heute bin ich dieser Meinung gefolgt. Bis heute. Nun aber weiß ich, daß es geht und kenne den Kniff, den man anwenden muß, um wie mit einem Fingerschnipp, na sagen wir mal in die Zeit von vor ca. 45 Jahren zurückzukehren. Ja, das geht - aber ein Vergnügen ist es nicht. Die Zeitmaschine, von der ich spreche, ist nicht von H.G. Wells entworfen, sondern ein Hotelzimmer, eines mit der Nr. 102, um genau zu sein. Sie finden es - ein Anachronismus sondergleichen - in einem Vier-Sterne- Hotel im Südtiroler Tiersertal, das ansonsten mit eleganten, niegelnagelneuen ruhigen Zimmern, geräumig verglasten Naturstein-Regenduschen, feinstem Holz und mit Rosengarten-Blick aufwartet. Ein Hotel, das eine erstklassige Küche pflegt, seine Gäste mit exquisitem Frühstücks-Büffet verwöhnt und über einen erlesenen Sauna-Bereich mit Innen- und Außenschwimmbad verfügt, von dem aus man im temperierten Wasser dümpelnd das vom Sonnenuntergang angeleuchtete Gebirgswunder Rosengarten betrachten kann.
Aber dann: Zimmer 102.
Ein Zeitsturz zurück in vergessene Welten. Dunkel, kleines Fenster mit Blick auf ein Mäuerchen der Hotelfassade, mit einer Einrichtung aus den Anfangstagen des Hotels, ja der Hotellerie schlechthin, als Wanderer noch genügsam waren und mit derben Sitzbänken, einfachster Bad-Ausstattung und 60 x 60 cm großen, klapprigen Duschkabinen zufrieden waren. Das muß vor beinahe einem halben Jahrhundert gewesen sein. Seither hat, mal abgesehen von den guten Matratzen des in einen finsteren Winkel gezwängten Bettes und den matten Sparbirnen keine modernisierende Hand dies Zimmer je berührt. Einen Balkon hat es immerhin, der über dem Eingang des Hotels, via-a-vis dem Parkplatz und gegenüber der beliebten Paßstraße liegt, zu deren Anstieg die Motorrad-Touristen gerne noch mal am Gashebel drehen. Des Morgens genießt der Gast, der nicht schon um 06.00 Uhr zu einer Wanderung aufgebrochen ist, das Stiefel- und Stuhl-Gepolter aus dem Zimmer darüber, An- und Abreisen vor dem Haus und den morgendlichen Lieferdienst für die Küche.
Am Abend hat er dafür die Abwechslung, in der Stille der Bergwelt jeden spät heimkehrenden Gast begrüßen zu können, der noch ein wenig unter dem Balkon plaudert und so nicht, tut die unmittelbar unter seinem Zimmer
Zerschlagen und von Alpträumen gemartert wankt der zerrüttete Zimmerbewohner endlich zu früher
Was der Sache einen gewissen Witz, ja Pikanterie verleiht, ist die verblüffte und den Reisenden verblüffende Reaktion des mit den Fakten konfrontierten Hoteliers - ein ansonsten wirklich netter Mensch, dessen Vater einst das Unternehmen gründete: das höre er zum ersten Mal und nie zuvor habe sich jemand negativ über den Standard dieses Zimmers, über jedweden Lärm und überhaupt geäußert. Recherchen in der Branche vor Ort ergaben, daß dies und vier weitere Zimmer des ursprünglichen, längst erweiterten (4-Sterne)- Hauses noch über den seit 40 Jahren überholten Standard verfügen. Entgegen gutem Rat der lokalen Hotelbranche - Tiers/St. Zyprian lebt von der Hotellerie - werden sie wider jede Einsicht immer noch gegen gutes Geld vermietet, wiewohl sie allenfalls zwei Sternchen wert wären. Wünschen wir dem Haus keinen verdeckten Hotel-Tester - es könnte glatt einen Stern kosten. Soviel Chuzpe verlangt nach Anerkennung. Die möchte ich dem mutigen Haus mit dieser Reverenz an Zimmer 102 zollen.
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